Nach einer langen Heimreise von Kalifornien sind wir im Endanflug auf die Piste 14 in Zürich. Die letzten Checklisten sind abgeschlossen und während wir auf die Landebahn zusteuern verbleiben uns ein paar Augenblicke, um die atemberaubende Aussicht aus dem Cockpit zu geniessen. Der Herbst ist in voller Pracht angekommen und taucht die Landschaft in warme, erdfarbige Töne. Am Horizont ragen die majestätischen Alpen empor, während das farbenfrohe Mosaik der Wälder rund um den Flughafen einen lebendigen, strukturierten Teppic unter uns bildet. Momente wie diese erinnern uns an die einzigartige Schönheit unseres „Büros" und das Privileg, die wechselnden Jahreszeiten und Landschaften von oben zu erleben.
Es gibt eine eigenartige Alchemie, die sich ereignet, wenn man sein Arbeitsleben zwischen Orten verbringt. Man beginnt zu verstehen, dass „Zuhause" nicht bloss ein Ort ist, sondern ein Gefühl, das in der Schnittmenge von Erinnerung, Geografie und Licht existiert. Eine Tatsache, welche mir im Sinkflug Richtung Zürich bewusst wird, nach dem wir rund elf Stunden unterwegs sind und den halben Globus umrundet haben. In Momenten wie diesem realisiere ich, wie fliessend das Konzept von Ort wird, wenn man seinen Lebensunterhalt "unterwegs" verdient.
Wir sind gestern Abend Ortszeit in San Francisco gestartet oder sehr früh heute Morgen Schweizer Zeit. Oder gemäss meiner inneren Uhr wohl irgendwo dazwischen. Dieses Gefühl an sich offenbart etwas Grundlegendes über das Leben als Pilot: Wir existieren in einer immerwährenden Gegenwart, die sich über Meridiane erstreckt, immer ankommend und doch stets irgendwie unterwegs. Der Körper weiss, dass er hier ist, sich der malerischen Schweizer Landschaft an einem Oktobernachmittag nähert, aber das Bewusstsein hinkt irgendwo hinterher, verstreut über die neun Zeitzonen, die wir soeben durchquert und all die Eindrücke die wir auf dieser Reise gewonnen haben. Ein einzigartiges Gefühl, das wohl die meisten Langstreckenpiloten gemeinsam haben. Eines, dass ich nicht als Jetlag beschreiben würde, sondern vielmehr als Place-Lag.
Unter uns hat der Herbst die Landschaft in ein wunderbar farbiges Farbenkleid verwandelt. Die Wälder glühen in Schattierungen, die von einem anderen Element entliehen scheinen: Feuer, das langsam über die Hügel um den Flughafen brennt. Als Pilot darf ich diese Wälder aus der Höhe auf ihrer Wanderung durch die Jahreszeiten bestaunen: die zarten Grüntöne des Frühlings, das tiefe Grün des Sommers, und nun diese spektakuläre Entflammung, bevor die Kargheit und Stille des Winters. Es liegt etwas Tiefgründiges darin, die es einem erlauben, eine einzelne Landschaft auf diese Weise über Zeit hinweg zu beobachten.
In der Ferne stehen die Alpen stoisch, wie sie es immer tun. Gleichgültig gegenüber Jahreszeiten, gegenüber unserem Kommen und Gehen, gegenüber den zarten Spuren der Kondensstreifen, die den Himmel über ihnen durchziehen. Sie waren schon immer essenziell im Leben eines Piloten: Sei es als Konstanten, nach denen wir zu Beginn der Luftfahrt navigierten, oder als emotionaler Anker, zu dem sie heute geworden sind. Wenn ich diese Gipfel am Horizont sehe, beruhigt sich etwas in mir und löst das Gefühl vom Heimkommen aus.
Was bedeutet es, nach Hause zu kommen, wenn deine Arbeit das Weg gehen ist? Das ist die Frage, mit der sich jeder Pilot zwangsläufig umtreibt, obwohl wir sie wohl selten laut aussprechen. Wir sind Menschen zweier Welten: der Welt der Ferne und der Welt der Rückkehr. Wir verbringen unsere Tage in diesem seltsamen Raum zwischen Gehen und Ankommen, getragen von der physikalischen Gesetze der Aerodynamik, in einem Zylinder aus Metall, der sich mit einer kaum vorstellbaren Geschwindigkeiten durch Luft bewegt, die zu dünn zum Atmen ist. Und dann gibt es immer dies: den Endanflug, die Landschaft, die uns entgegensteigt und damit den Übergang von Bewegung zu Stillstand bedeutet.
Das warme, herbstliche Licht fällt nun schräg ins Cockpit, vergoldet das Instrumentenbrett, wirft lange Schatten über die Felder unter uns. In wenigen Augenblicken werden die Räder die Piste 14 berühren, und dieser Flug findet seinen Abschluss. Dieser Moment ist eine der vielen Besonderheiten, die für mich das Pilotensein ausmachen: Das ist das Gefühl und die Tatsache die Welt nicht nur von oben zu sehen, sondern auch auf eine wesentliche Weise zu verstehen, dass Heimat sowohl der Ort ist, den man verlässt, als auch der Ort, zu dem man zurückkehrt.
About the Image
Das Oktoberbild fängt diesen Schwellenmoment zwischen Reise und Ankunft ein. Aufgenommen während des Endanflugs als beobachtender Pilot, sind die Checklisten abgeschlossen und das Flugzeug auf seinem Pfad eingependelt. Während man sich voll darauf konzentriert, das Flugzeug präzise zur Piste zu steuern, erlaubt diese Phase kurze Momente, einfach nur zu beobachten. Die tiefstehende Herbstsonne liefert das definierende Licht – wirft lange Schatten, entfacht die Wälder unter uns, lässt die vertraute Landschaft für einen Moment fremd und wunderschön erscheinen. Die Herausforderung liegt darin, sowohl die technische Realität des Fluges als auch ihre flüchtigeren Qualitäten einzufangen: das Gefühl von Perspektive, von Jahreszeit, von Heimkommen.
Aufgenommen mit einer Canon EOS R5 + RF 24-105mm F4.0 L IS USM @ 60mm, ISO 160, f/5.0, 1/640 sec
Über "Behind the Image"
In meinem Fotokalender "Up in the Sky" gewähre ich faszinierende Einblicke in meinen Alltag als Linienpilot. Diese Blogserie ergänzt den Fotokalender und erzählt die Geschichte hinter dem Moment, in dem das Bild aufgenommen wurde. Zudem bietet sie Hintergrundinformationen darüber, was sich im Cockpit ereignet hat und wie das Bild entstanden ist.

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